Selbstverständlichkeiten
Selbstverständlichkeiten
Ein Mann sitzt mit seinem 17-jährigen Sohn im Zug. Mit großen Augen schaut der junge Mann aus dem Fenster und fragt: »Papa, ist das eine Kuh?« Der Vater lächelt und antwortet: »Ja, mein Sohn.«
Aufgeregt spricht der Junge weiter: »Papa, diese Blumen sind Sonnenblumen, oder?« Die Antwort lautet wieder: »Ja, mein Sohn.« Viele weitere Fragen folgen: »Papa, ist das ein Lastwagen? … eine Tanne? … ein Hubschrauber? … ein hoher Berg …?« Stets folgt dieselbe Antwort: »Ja, mein Sohn.«
Zwischendurch zeigt der Vater in eine Richtung und sagt: »Schau, mein Sohn, der Vogel ist ein Bussard, dieser Baum ist eine Eiche und dort ist ein Rapsfeld …«
Ein Fahrgast, der den beiden gegenübersitzt, spricht den Vater nach einer Weile an: »Bei allem Respekt, das Verhalten Ihres Sohnes ist doch sehr merkwürdig.« Gespreizt weist er ihn darauf hin, dass es heutzutage doch sehr gute Kliniken für Fälle »wie diesen« gäbe und die Medizin in alle Richtungen große Fortschritte mache.
Der Vater unterbricht ihn: »Wie recht Sie doch haben!«, ruft er und fährt freundlich fort: »Von solch einer Fachklinik kommen wir gerade. Mein Sohn hat vor zwölf Jahren sein Augenlicht verloren und kann seit wenigen Tagen wieder sehen.« Sichtlich beschämt senkt der Mann den Blick. Nach einer Weile wendet er sich dem Jungen zu: »Junger Mann, ich muss mich bei Ihnen entschuldigen.« Und nach einer Pause sagt er noch: »Und ich möchte mich bei Ihnen bedanken. Sie haben mir eben aufgezeigt, dass ich vieles Wertvolle im Leben gar nicht mehr wahrnehme, weil ich es für selbstverständlich gehalten habe.«
© Aus dem Buch von Gisela Rieger: „111 Herzensweisheiten“